Meditationen

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    Johannes-Stimmung aus dem Seelenkalender von Rudolf Steiner

    Eine meditative Annäherung

    12. Woche nach Ostern

    „Der Welten Schönheitsglanz
    Er zwinget mich aus Seelentiefen
    Des Eigenlebens Götterkräfte
    Zum Weltenfluge zu entbinden;
    Mich selber zu verlassen,
    Vertrauend nur mich suchend
    In Weltenlicht und Weltenwärme.“

    Eine erste Annäherung und Beziehungsaufnahme zu dem Inhalt kann in einer sogenannten Konsolidierungsphase erfolgen

    Zunächst werden die einzelnen Worte, die Rudolf Steiner gewählt hat, zur Kenntnis genommen. Jedes Wort scheint bedeutungsvoll. Dann können die Worte in ihrem Zusammenhang wahrgenommen und schließlich gedanklich bildhaft vorgestellt werden.

    Das Wort „Schönheitsglanz“ der Welten erscheint in einer Steigerung zur „Weltenschönheit“ des 11. Verses; Rudolf Steiner spricht nun nicht nur von der Schönheit, sondern vom Glanz der Schönheit. Wie kann man sich diesen Unterschied genau vorstellen? Die Schönheit ist bereits etwas sehr Erhebendes und nun ist die Rede vom Schönheitsglanz.

    Er scheint so eindringlich zu sein, dass er etwas in der Tiefe der Seele zu berühren und sogar eine zwingende Macht auszuüben vermag. Auch das Wort „Seelentiefe“ kann zu einer realen Vorstellung gebracht werden. Wie kann man sie sich möglichst konkret vorstellen?

    Schließlich ist die Rede von den Götterkräften des eigenen Lebens. Welche Kräfte hat Rudolf Steiner hier gemeint? Wie lassen sich diese Götterkräfte genau beschreiben?

    Diese sollen zum Flug in die Welten entbunden werden. Um welche Welten handelt es sich hier? Jedenfalls entsteht das Bild einer großen Ausdehnung in die Weite der Welten.

    In der nächsten Zeile findet eine Steigerung statt: Mich selber zu verlassen und dabei vertrauensvoll zu sein, wenn man sich nur außerhalb von sich sucht, nämlich in Weltenlicht und Weltenwärme.

    Auch diese beiden Begriffe “Weltenlicht und Weltenwärme” können in eine Vorstellung gebracht werden. Wohin muss sich der Blick dafür richten? Sich selbst außerhalb von sich zu suchen?

    In der Phase der Konsolidierung erfolgt eine Annäherung, die sehr nahe am Text bleibt, damit der Text selbst sich zunehmend aussprechen kann. Es wird dabei zunächst auf eigene Interpretationen verzichtet, um den Text nicht fehl zu deuten und nicht versehentlich dem eignen Erkenntnisstand unterzuordnen. Der Wunsch nach einem schnellen Verstehen der Zeilen wird zurück gestellt. Gewissermaßen geschieht dabei ein Verlassen des eigenen bisherigen Horizontes. Die Augen, die Sinne richten sich ganz unabhängig von bisherigen eigenen Erfahrungen und Erkenntnissen zu den Worten hin und öffnen sich ihnen unbefangen mit einem forschenden Blick.

    Intensiveres Bewegen und einfaches Konzentrieren des Gedankens

    Das anfängliche Betrachten und Bewegen der Begriffe beim Lesen des Verses kann nun intensiviert werden, indem die Sätze in das Gedächtnis eingeprägt werden, was nach der geleisteten Vorarbeit relativ schnell gelingt. Nun können sie eigenständig ohne nachzulesen, aus der Erinnerung bewegt werden zu jeder Zeit und an jedem beliebigen Ort. Selbst wenn sich die Zeilen in ihrem tieferen Sinn immer noch nicht offenbart haben, rücken erste Empfindungen näher. Indem sie immer wieder gedacht und vorgestellt und mit Fragen erweitert werden, kann ihr inneliegender Sinn oder anders ausgedrückt, dasjenige was Rudolf Steiner wahrgenommen und hinein gelegt hatte, sich zunehmend und auf objektive Weise ausdrücken, einen Raum gewinnen und in das eigene Empfinden hinein leuchten.

    Mich bewegte die Frage, wo Rudolf Steiner diesen Glanz der Schönheit wahrnahm, in den Naturerscheinungen oder in noch viel tieferen Schauungen zur Welt, wo er seine Aufmerksamkeit hingerichtet hatte. Den Vers über mehrere Tag hinweg und mehrmals am Tag in der Vorstellung bewegend, ging ich in die Natur und schaute wie mit den Augen des Verses die verschiedenen Pflanzen an. Selbst Pflanzen, die ich normalerweise wegen ihrer Unscheinbarkeit oder weil sie mir persönlich nicht gefallen, gar nicht wahrgenommen oder betrachtet hätte, zeigten sich wie in einer neuen und tief berührenden Schönheit, in ihrer eindrucksvollen Geometrie, in einem unerschöpflichen Formenreichtum und einer ausstrahlenden harmonischen Ordnung.

    Ich gehe davon aus, dass der Vers in seiner Bedeutung weit über diese Wahrnehmungen hinausreicht und noch eines weiteren Forschens bedarf, jedoch war ich erstaunt, welche Wirkung er entfaltete, nur indem ich ihn mir wiederholt bildhaft vorstellte und fragend gedacht hatte.

    Die nachfolgenden Bilder sind mit den Gedanken des Verses schauend entstanden

  • Meditationen

    Potential zum Neuanfang in der Corona-Krise – eine Meditation

    erstmals veröffentlicht 26. April 2021

    Ein Gedanke von R. Steiner, dessen Aussage auch in der heutigen Zeit wie erhebend auf den Menschen wirkt, weil er ein verborgenes reales menschliches Potential anspricht. In der Meditation kann der Gedanke mit seiner inneren Substanz neu erschaffen werden.

    In Zeiten, in denen Niedergangskräfte dominieren
    kommt es auf den ganzen Menschen an,
    auf den Entschluss,
    nicht mit dem Strom
    und nicht gegen den Strom
    zu schwimmen,
    sondern Neuland zu schaffen,
    in sich selbst und in seinem Wirkenskreis.“

    Aus meiner Erfahrung ist es günstig, vorbereitend für die Hinwendung zu einem geistigen Gedanken in der Meditation, diesem sich in dialektischer Weise anzunähern, ohne dessen Sinn zu verändern. Es findet dabei eine erste Beziehungsaufnahme zu einem zunächst fremden Gedanken statt.

    R. Steiner spricht von dem „ganzen Menschen“ auf den es ankommt. Wie kann man sich das vorstellen? Wie hat R. Steiner das gemeint? Schöpft der Mensch seine ganze Kapazität noch nicht aus, wenn er sich für oder gegen eine Sache ausspricht, wenn er sagt, ich finde dieses oder jenes gut oder schlecht, das andere gerade tun? Bemerkt und entfaltet er sein ganzes Potential vielleicht erst, wenn er beginnt, in etwas Neuem anzusetzen, ein neues gewünschtes Ideal für die Zukunft selbst zu formulieren, zu denken, es zu fühlen und schließlich in sich selbst zu entwickeln?

    Wenn Menschen mit dem Strom schwimmen, dann lassen sie ihre Kräfte des eigenständigen Denkens und auch ihre Willenskräfte ungenutzt und werden schwächer, und die anderen, die gegen den Strom schwimmen, verausgaben sich im Willen und erschöpfen dabei auch in ihren Denkkräften, und erfahren dadurch ebenfalls eine Schwächung. Im „mit“ und „gegen“ öffnet sich ganz bildhaft auch die Kluft einer großen Spaltung zwischen den Menschen, die weitere Verausgabungen in den Lebenskräften hervorruft. Das fehlende Zueinander lässt das Fühlen im Seelischen kälter werden in und zwischen den Menschen.

    R. Steiner spricht sogar von einem richtiggehenden Entschluss, weder mit noch gegen den Strom zu schwimmen und drückt die Möglichkeit aus, „Neuland zu schaffen, in sich selbst und in seinem Wirkungskreis“. „Neuland zu schaffen“ könnte bedeuten, auf einer anderen Stufe anzusetzen als der bekannten, auf der des Konfliktes und der Polarität und etwas Neues, in der Form noch nicht da gewesenes zu schaffen, ein neues Ideal zu kreieren. Große Ideale umschließen alle Menschen und beinhalten durch ihr inneliegendes Ehrgefühl eine Wärme für den anderen, wie es beispielsweise die Würde, der Mut, die Verantwortung ausdrücken.

    Der Blick auf die zunehmende Kälte in den Empfindungen zwischen und in den Menschen offenbart einen großen tiefgreifenden Mangel. Das Gegenbild zu der Kälte wäre die Wärme, die im Seelischen lebensnotwendig für jeden Menschen ist. Da sie für alle Menschen gleichermaßen vonnöten ist, kann man auch bei der Wärme von einem Ideal sprechen, die nicht nur als physische Wärme verstanden wird, sondern als seelische Wärme und sogar in einer noch umfassenderen Weise im geistigen Sinne.

    Wie kann Wärme wieder entstehen, wie kann sie vom einzelnen Menschen selbst als kultureller Wert erschaffen werden? Indem er diese Frage bewegt, betritt er dabei nicht gedanklich bereits Neuland? Er würde nicht in dem spaltenden Problem ansetzen, in dem „für“ oder „gegen“, sondern sich mit seiner ganzen Person gewissermaßen zu etwas Neuem und Idealeren aufschwingen.

    Größere Ideale beinhalten die Substanz der Anerkennung der individuellen Einzigartigkeit und Fähigkeiten eines jeden Menschen und erheben und fördern ihn dahin. Sie sind wie eine Sonne aus der heraus jedem Einzelnen ein Raum für die Entwicklung eröffnet wird. Denkt man beispielsweise die Handlungen, Begegnungen oder beruflichen Aktivitäten etwa aus dem Bild der Würde heraus, dann kann man sich fragen, wie sich die Würde darin ganz praktisch und sichtbar ausdrückt. Indem solche konkreten Bilder gedanklich aktiv in der Vorstellung erschaffen werden, entstehen neue Empfindungen, die sich zunehmend in den Handlungen ausdrücken. Beispielsweise kann sich der Wunsch, dem anderen aus Wertschätzung eine Qualität entgegen zu bringen aus dem gedanklich lebendig geschaffenen Bild einer würdevollen Begegnung mit ihrer ausstrahlenden Wärme eröffnen.

    Sogar die tägliche Sprache zu anderen könnte von dem Gedanken der Würde aus einmal gedacht und vorgestellt werden. Sind die Worte belanglos, oberflächlich oder eigenbezogen oder sind sie bewusst für den anderen gewählt und erschaffen dadurch eine neue edlere Form und wirkliche Begegnung. Ein „guten Morgen“ kann mechanisch als Höflichkeitsfloskel dahin gesagt werden, gedankenlos und ohne Wahrnehmung zu dem anderen oder mit einem kurz innehaltenden Blick und einer interessierten bewussten Beobachtung zu dem anderen und seinem aktuellen Befinden gerichtet sein. Das „guten Morgen“ als ehrlich gemeinter persönlicher Gruß an den anderen, vielleicht sogar mit einer bildhaften Vorstellung, wie ein guter Morgen für diesen Menschen ganz praktisch aussehen könnte, eröffnet eine wärmende Beziehungssphäre und einen Raum für den anderen. Im einfachsten Sinne würde durch diese Bewusstseinsaktivität ausgehend von dem Ideal der Würde in der Sphäre die Würde bereits real erschaffen und die Qualität einer verbindenden Wärme über die Sprache erzeugt.

    In Zeiten, in denen Niedergangskräfte dominieren
    kommt es auf den ganzen Menschen an,
    auf den Entschluss,
    nicht mit dem Strom
    und nicht gegen den Strom
    zu schwimmen,
    sondern Neuland zu schaffen,
    in sich selbst und in seinem Wirkenskreis.“

    Empfehlenswert erscheinen mir zwei weiterführende Artikel von Heinz Grill, die sich der Frage des zunehmenden Wärmeverlustes in der heutigen Zeit, sowie der Meditation als Substanz erschaffende Aktivität widmen. In „Die Wärme und die Willenserkraftung“ und „Die gegenwärtige Zeit benötigt eine spezifische Meditation“ beschreibt er die Corona-Situation aus einer seelisch-geistigen Sicht und schlägt Ansatzmöglichkeiten vor, die nicht in dem polaren Konfliktfeld beginnen sondern in einem weiteren Umkreis, der durch ein größeres verbindendes Ideal Begegnungen und Dialog neu ermöglicht.

    Sigrid Königseder